Geht „Hamburg-Berlin“ auch querfeldein?
„Zum Saisonende noch einmal kräftig in die Pedale treten“, das ist die Losung der Langstrecken-Radfahrer vom Audaxclub Schleswig-Holstein e. V. Sie sind die Veranstalter vom „Einzel- und Mannschafts-Zeitfahren HHB“. Das Radsport-Event mit ca. 270 Kilometern von Hamburg-Curslack nach Berlin-Alt Gatow wird seit 2006 immer am zweiten Wochenende im Oktober frei ausgetragen, in diesem Jahr am 15. Oktober. Dabei sind nur die Querungen der Elbbrücken Geesthacht und Dömitz vorgegeben, der weitere Streckenverlauf ist frei wählbar.
Kein geringerer als die liebenswerte Radsport-Seele Burkhard Sielaf aus Hamburg-Altengamme hatte viele Jahre lang auch die Geschicke dieser alljährlich „saisonvorletzten“ Straßenradsport-Veranstaltung Norddeutschlands gelenkt . (Die alljährlich letzte Straßenradsportveranstaltung startet regelmäßig am Morgen danach unweit des Ziels am Wassersportheim Berlin Alt Gatow, nämlich in Spandau mit der Radtourenfahrt des Radsportclub Charlottenburg e. V. ) Nebenher hat Burkhard aktiv Verbandsarbeit geleistet und war mit seinen Fotokameras nicht nur bei HHB sondern überall in der norddeutschen Radsportszene unterwegs und hat viele tolle Ereignisse, u. a. den CX-WeltCup und die CX-Landesmeisterschaften Nord in Zeven in wunderbaren Bildern festgehalten.
Einst hatte Burkhard Pläne für eine Hamburg-Berlin-Tour abseits der festen Straße betrieben und dazu abschnittsweise Erkundungen betrieben, die er leider nicht als Ganzes abschließen konnte. So macht sich nun das zweiköpfige Team „7EVEN-BERLIN“mit Daniel und Bernd auf den Weg, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Damit tauchen sie keineswegs im Windschatten eines Pelotons unter, sondern stellen sich der Herausforderung „Graveln“, zu Deutsch: „Schottern“. Das bedeutet abseits von asphaltierten Straßen auf Kiesel-, Schotter-, Wald- und Naturpfaden mit dem Crosser, einem breit bereiften Geländerennrad zu pedalieren und mehr zu erleben.
Mit seinem Rennrad hat Daniel das Zeitfahren HH-B schon in 2020 absolviert, wenn auch außerhalb der Wertung. Sein Teampartner Bernd war bislang siebenmal mit dem Rennrad, viermal mit dem Tandem, zweimal mit dem Zeitfahrrad und einmal mit dem Crosser (auf der Straße) dabei, davon insgesamt elfmal innerhalb der Wertung. Ganz bewusst wählten die beiden Zevener Radsportler in diesem Jahr eine sehr frühe Startzeit, denn ihr Weg sollte kein leichter sein.
Nun ist es soweit. Noch im Dunkeln, um 6.30 Uhr starten die ersten der 200 angetretenen Piloten, während die weiteren Teams im Minutentakt nachfolgen. Die Zevener Geländerenner bekommen ihr Startsignal nur drei Minuten später und schwenken bereits in Tespe von der Straße ab auf den Elbdeich. Dabei können sie sogar vor der Mündung des Elbe-Seitenkanals bei Artlenburg an allen zuvor gestarteten Straßenrennern vorbeiziehen. In Ermangelung an alternativen Wegstrecken rollen Daniel und Bernd auf nahezu leeren Straßen weiter über Bleckede bis nach Alt Garge. Während dort für die nachfolgenden Straßenrenner die Zufahrt zur Elbuferstraße baustellenbedingt nicht möglich ist, können die Zevener den beeindruckenden Elbausblick von der ufernahen Laubwaldstrecke durch die Garger Berge genießen. Erst als die beiden bei Drethem die asphaltierte Elbuferstraße verlassen und durch das Grün auf dem ufernäheren, schmalen Wanderpfad jenseits des Kniepenbergs eintauchen, werden sie von den auf der Straße fahrenden Rennradfahrern eingeholt.
Hinter Tiessau kreuzen sich die Wege wieder, denn dort schwenkt die asphaltierte Elbuferstraße wieder nah ans Elbufer und die Geländefahrer kreuzen hinüber um quer durch den Wald über die üppigen Steigungen nach Hitzacker zu klettern. Hinter Hitzacker rollen die Schotterer mangels Alternativen auf der Straße bis Damnatz und danach erneut oben auf dem Elbdeich entlang bis hin zur Querung der Wiedervereinigungsbrücke ins Mecklenburgische Dömitz. So erreichen sie die einzige Kontrollstelle des Zeitfahrens um genau um 9.45 Uhr.
Gestärkt durch Kaffee, Datteln und Schokolade brechen die Zevener Piloten wieder auf und folgen innerstädtisch einem Velomobil (vollverkleidetes Liegerad) auf dem Roggenfelder Deich der Dove Elbe zur Umfahrung des Stadtkerns. Nach Querung der Müritz-Elde-Wasserstraße im Hafen von Dömitz schwenken die Geländefahrer sogleich wieder ins Grün und ziehen südlich der Löcknitz auf schmalen Pfaden voran.
Diese Pfade führen sie nah am Elbufer bis nach Cumlosen stellenweise über Hindernisse in Form von reizenden Zäunen und durch sehr üppig verstreute Schafsköttel.
Ersatzlos folgen sie nun der Bundesstraße B195 bis Wittenberge, wo sie hinter der Stephenitzbrücke wieder auf dem Elbdeich flanieren können und auch das Storchendorf Rühstädt erreichen. Über die Schleusenbrücke vom Gnevesdorfer Vorfluter entern Daniel und Bernd hier das lange, schmale Eiland zwischen dem Vorfluter und der Elbe.
16 Kilometer lang genießen sie die verkehrsfreie, naturnahe Idylle und queren dann über die Schleusenbrücke der Havel-Mündung auf das nächste Eiland. Nur knapp sechs Kilometer lang, aber erheblich breiter schließt sich zwischen den Läufen von Elbe und Havel die befahrbare Landzunge mit der kleinen Siedlung Neuwerben an. Nach Querung der Schleusen vom Elbe-Havel-Verbindungskanal haben die Geländerenner wieder „Festland“ erreicht. Von der Havelberger Elbstraße aus unternehmen die abenteuerhungrigen Radler über die Stadtinsel hinweg einen Proviantladungsexkurs zu einem örtlichen Einkaufsmarkt vor.
Gestärkt durch Muffins, Nussecken, Kartoffelchips und kräftigen Kaffee satteln die Graveler nach Auffüllen der Wasservorräte wieder auf und steigen in die Pedale. Sie kehren zurück zum Kurs auf Rhinow. Abweichend von der gängigen Streckenauswahl haben die Zevener jedoch keinen Kurs gewählt, der im Nordwesten über Rhinow nach Falkensee führt, sondern eine Geländeroute auserkoren, die zunächst südlich und danach direkt gen Osten durch die Döberitzer Heide nach Alt Gatow verläuft. Daher verlassen sie bereits vor Kulhausen den Asphalt und steuern insbesondere über Trassen von Panzerplatten oder auf Feldwegen am Gülper See, Schollener See, Trittsee und Steckelsdorfer See vorbei in den Süden nach Rathenow. Der folgende Ostkurs wird südlich vom Naturschutzgebiet Gräninger See jäh durch einen versandeten Feldweg gestoppt, weil er gleich einem frisch gerodeten Kartoffelacker die Radkurbeln im Sand versinken lässt. Da heißt es kurz kehrt machen und einen parallelen Weg finden. Nur sechs Kilometer weiter wiederholt sich das Bild auf einem Waldweg vor dem Klein Behnitzer See und auch hier muss man zurück und eine parallele Verbindung auskundschaften. Fortan läuft das naturnahe Vorankommen relativ problemlos und mit Querung des Havel-Kanals und des Berliner Autobahnrings, der A10 bei Priort ist das Ziel um 18.45 Uhr in eine überschaubare Reichweite von 25 Kilometern gerückt.
Doch dann kommt ein sandiges Inferno. Waldwege, die nur aus feinstem, trockenen Heidesand bestehen. Da wird jeder Grashalm oder ein Stückchen Reisig zum willkommenen Haftgrund für das Vorankommen auf zwei Rädern. Aber nach eineinhalb Kilometern wird es dann noch schlimmer. Das Fahrrad-Navigationssystem kann keine vernünftigen Sattelitensignale aufnehmen und die Anzeige im Display dreht alle fünfzig Meter mal nach links, mal nach rechts oder überkopf. Nach vielem Abbiegen und Wenden kommen bei den Geländeradlern Zweifel auf den richtigen Weg zu finden zu können. Es kommt sogar die Befürchtung auf möglicherweise im Kreis zu fahren. Nach zwei weiteren Kilometern resignieren die Piloten vor der Querung dieser riesengroßen Sandkiste und steuern direkt auf in der Ferne sichtbare Lichter zu. Mühselig kommen sie voran und erreichten nach ca. zweieinhalb Kilometern den Ort Elstal an der Bundestraße B5. Das durchquerte Areal liegt von Berlin aus im Funkschatten von Wolfsberg und Eichberg. Dieser Verkehrsknotenpunkt zwischen der A10-Ausfahrt Spandau und dem Spandauer Kreuz (A10-B5) ist offensichtlich mit üppigen Sendeanlagen versorgt, die dem betagten Fahrrad-Navigationssystem (Etrex Vista) übel zusetzen. Da die B5 hier als Kraftfahrstraße ausgelegt ist, findet sich hier kein Weg für Radfahrer. Folglich müssen die Geländeradler, die sich notgedrungen für ein Umfahren des Gebietes auf der Straße entschieden haben, einen größeren Umweg über Neu Fahrland und Groß Glienicke zur Bundesstraße B2 in Kauf nehmen. Dieser folgen sie abschließend in Richtung Norden, bis sie zum guten Ende nur noch drei Kilometer geplanter Route quer durch den Wald der Feldflur Gatow ganz geradeaus, ohne Berührung mit irgendwelchem Stadtverkehr ins Ziel graveln können. So sind aus den letzten 25 Kilometern dann tatsächlich ganze 50 Kilometer geworden, die die Zevener Geländefahrer eine Gesamtkilometerleitung von genau 300 einfahren lassen. Durstig, mit leeren Wasserflaschen, leicht erschöpft, aber insgesamt zufrieden und glücklich kommen Daniel und Bernd um 20.34 Uhr im Ziel am Wassersportheim in Alt Gatow als zwei von insgesamt 193 Finishern an. Nur sechs Piloten haben erschöpft abgebrochen und einer wurde wegen groben unsportlichen Verhaltens disqualifiziert. Das Wetter war allen wohlgesonnen, ebenso war man von größeren Pannen und Verletzungen verschont geblieben.
„Bei solchen Entfernungen ist die Platzierung eher nachrangig, denn der Weg ist das Ziel.“