7xB – Fünf wagemutige Rennradfahrer auf ihrem Weg nonstop von 7even an den Strand von Spandau, 10. Oktober 2020, 370 Kilometer

Eigentlich gab es keine Straßensaison 2020. Fast alle Rennveranstaltungen, Radtourenfahrten und Brevets wurden Anno Corinna abgesagt. Nur die Tour-de-France der Profis wurde mit recht gravierenden Einschnitten nachgeholt. – Aber nun gab es für die Langstreckenradfahrer einen Lichtblick am Horizont. Der Audaxclub Schleswig-Holstein hat unter strengen Hygiene-Auflagen die 14. Auflage vom Team- und Einzel-Zeitfahren Hamburg-Berlin in Aussicht gestellt. Der Termin 10. Oktober ist mit dem Samstag vor dem zweiten Sonntag im Oktober bereits historisch festgesetzt. Die maximale Teilnehmerzahl wurde jedoch von 300 auf 200 reduziert. Zudem musste die Eröffnung einer Anmeldung mehrfach verschoben werden, denn die von den föderalistischen Ländern Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin erlassenen Beschränkungen wurden ständig umgewandelt.

Als ich mich nun am endgültigen Anmeldetermin, Samstag, den 5. September 2020, um 6.00 Uhr an mein Notebook begebe, kann ich die Veranstaltungsseite nicht erreichen. Also drücke ich F5, nochmals F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5, F5 und dann passiert das …

locked!

Die Was-wäre-wenn-entscheidung ist relativ klar, denn bereits 2018 mussten wir einen Plan-B entwickeln: „Wir fahren ab Zeven und legen damit schon mal 90 Kilometer vor.“ Die Antwort auf meinen Vorschlag kommt prompt. Innerhalb von drei Minuten setzt Jan das richtige Zeichen: „Wenn kein Schnee liegt – geht’s los, gemütlich! ;-)“

le contrôle technique des vélos

Am 10. Oktober ist es morgens um 3.00 Uhr noch zappenduster in Oldendorf. Zehn Minuten später lese ich in Zeven Udo auf und gemeinsam winken wir vor dem Rathaus freundlich dem bronzenen Pferdehöker zu. Es ist genau 3.24 Uhr als wir in Osterheeslingen auf unsere Mitstreiter Frank und Jan treffen. Für den einwandfreien Systemstart braucht es einen guten Kaffee, „und wie der duftet!“ Da uns entsprechend den Wetterankündigungen auch sogleich ein Nieselregen begrüßt, schalen Jan und Udo sich vorsorglich in entsprechende Beinkleider. Nach dem obligatorischen Startfoto gehen wir um 3.41 Uhr auf die Strecke: Steddorf, Vierden, Halvesbostel, Heidenau.

In Osterheeslingen läuft auch eine Kaffeemühle

Nach Querung der B3 bei Elstorf-Bachheide folgen die Anstiege der Harburger Berge. Wir reiten durch die Nacht und um 5.22 Uhr haben wir nach 53 Kilometern schon den mit 152 Metern über dem Meeresspiegel höchsten Gipfel unserer heutigen Reise genommen. Nach Unterquerung der Autobahn A261 stoßen wir über den Stadtweg um 5.34 Uhr in Tötensen an den hohen Damm der B75, den wir in einer urigen, schmalen Fußgänger- und Fahrradunterführung durchqueren.

Unterführung der Bundesstraße B75 in Tötensen

Mit dem Wind im Nacken lassen wir die A7 und A1 liegen und fliegen bis Over an die Elbe und der Niesel schwindet. Während die anderen drei Piloten stromaufwärts voranziehen, ist es für mich nun an der Zeit unseren fünften Mitstreiter, Daniel zu aktivieren, der in Hamburg-Curslack auf sein Startsignal wartet. 22 Kilometer folgen wir am linken Elbufer einem Bogen, der gegenüberliegend das ehemalige Gebiet des Konzentrationslagers Neuengamme umspannt.

Startaufruf in Curslack

Um 6.50 Uhr erreichen wir nach 90 Kilometern an der Geesthachter Schleusenbrücke den Parkplatz Rönne/Marschacht. Vereinzelt kommen Starter des Zeitfahrens über die Brücke und zu unserer Überraschung fragen uns zwei junge Mädels nach einem Kontrollstempel. Diesen wird es allerdings erst nach der zweiten Elbquerung in Dömitz geben. Beim Warten kühlen wir rasch aus, doch nur wenige Minuten später rollt auch unser Kamerad Daniel über die Brücke. Zu unserer großen Freude hat er eine Bäckerei heimgesucht und für uns alle lecker belegte Brötchen dabei.

Brötchen-Service am Parkplatz Rönne/Marschacht

Nach 25-minütiger Rast im Freien starten wir wieder durch und erfreuen uns, als nur 20 Minuten später, um 7.35 Uhr die Finsternis weicht. Leider tritt fast zeitgleich der erste Defekt ein. Jans elektronische Schaltung versagt aufgrund einer entladenen Batterie. Daher steuern wir bei Kilometer 144 die star-Tankstelle in Hohnstorf an. Ärgerlicherweise hält man dort weder die erforderlichen Knopfzellen vor, noch kann man uns Uhrmacher-Schraubendreher zur Verfügung stellen. Doch „für den Randonneur ist nix zu schwör“: Jan kann aus dem Trittfrequenzsensor problemlos eine baugleiche Batterie entnehmen. Sodann gelingt es mir mittels eines winzigen Cuttermessers die Batteriedeckelschrauben am Schaltgriff zu öffnen und nach dem Austauschen der Knopfzellen zumindest mit drei der vier Uhrmacherschrauben zu verschließen. „Es funzt!“

Pit Stop Hohnstorf – problem solved!

Udo hat die Wartezeit unter anderem genutzt, um nebenan im Discounter hocherfreut ein paar trockene Socken zu erstehen. So geht sie nun trockenen Fußes weiter unsere Reise entlang der Elbuferstraße. Am Ortsausgang von Alt Garge biegen wir in die als Sackgasse ausgeschilderte Rad- und Wanderwegroute entlang des Elbufers und stoßen dabei auf ein größeres Fahrerfeld vom offiziellen Zeitfahren. Überraschend zieht Jan noch vor dem Schlagbaum an allen Fahrrädern vorbei und setzt sich an die Spitze. Nach dem Wiedererreichen der Kreisstraße wird uns sein kühner Plan klar. Mitschwimmen im Strom über die Hügel vor Hitzacker. Das Feld scheut die harten Peaks auf der Kreisstraße und nimmt ebenfalls den entspannteren Bogen über die Landesstraße. Da rollt man gerne im Windschatten mit, wie viele es auch von den Cyclassics her kennen. Selbst der letzte der drei Hügel wird mit seinen 81 Metern nicht mehr zum Problem und wir rollen schwungvoll in Hitzacker hinein. Der im Netz mehrfach kommentierte Zustand der Baustelle Wussegel ist für uns nicht von Interesse, denn unser Track führt uns über Seerau. Da unsere Windschutzbegleiter in Seerau eine Rast einlegen, ziehen die HANSA-Piloten nun alleine weiter. Ebenenentspannt pedalieren wir weiter über Seedorf, bis wir kurz vor Kamerun wieder an den Elbdeich gelangen. Nun ist es nur noch ein kurzes Stück bis wir an die Bundesstraße B191 stoßen und sie queren werden um über die symbolträchtige Brücke der Deutschen Wiedervereinigung von Niedersachsen nach Mecklenburg-Vorpommern auf einem Radweg entlang diesen Bundesstraße über die Elbe zu pedalieren. Kurz bevor wir das Ende der Brücke erreichen ziehen auf dem Hauptfahrstreifen drei vollverkleidete Liegeräder an uns vorbei und biegen nach rechts in die Kontrollstelle auf dem Rastplatz ein. Entgegen dem zeitlichen Druck der offiziellen Teilnehmer des Team- und Einzel-Zeitfahrens machen wir hier erst einmal Föfftein! Zunächst suchen wir uns ein ruhiges Sitzplätzchen und dann brauchen wir erstmal alle einen Kaffee. Also Schnuffeltuch um, der Dirk sprüht mir zack, zack das Desi auf die Finger und dann kann ich den HANSA-Piloten mal gleich ne Runde Kaffee abholen.

Sauber umgesetztes Hygienekonzept an der Kontrolle vom Audaxclub SH – click to read!

Es ist inzwischen 10.41 Uhr, die Sonne lacht, wir streifen so einige Kleiderhüllen ab und der Kaffee schmeckt. Die ersten 189 Kilometer haben wir im Sack, der halbe Weg liegt schon hinter uns. So darf es gerne noch eine Waffel, ein Riegel, eine frische Birne und natürlich noch ein zweiter Becher Kaffee sein. Als wir nach vierzigminütigem Sonnenbad wieder in die Pedale steigen, ernten wir indes Fragen, ob wir überhaupt noch weiter fahren wollen.

Sunshine Bikers am Wiedervereinigungs-Denkmal an der Elbbrücke Dömitz

So hoppeln wir nun denn über das altstädtische Kopfsteinpflaster von Domitz und rollen voran nach Wittenberge. Vom Altstadtzentrum aus queren wir die mächtige Brücke über den Zulauf der Karthane und pedalieren nun weit ab vom Straßenverkehr direkt am Elbdeich entlang bis Havelberg. Da die Versorgung im weiteren Streckenverlauf eher schwierig ist, entschließen wir uns hier den gut sortierten und von einem Bäckerladen eingerahmten schwarzen Netto-Markt aufzusuchen, der uns bereits im letzten Jahr sehr willkommen war.

Randonneurs-Picknick in Havelberg

Es ist 14.52 Uhr und 260 Kilometer sind abgerissen. Süßes Gebäck, salzige Kartoffelchips und natürlich Kaffee sind unser Anspruch an eine ausgewogene Wegzehrung. Die Trinkflaschen sind wieder befüllt und so geht es wieder zurück auf die Straße des Glücks. Nach nur 26 Kilometern erreichen wir Rhinow, doch danach kommt ganz lange nix. Nochmals dürstet es uns nach einem Kaffee. Der Bäcker im Billig-Edeka wird weiterhin auf einer großen Werbetafel angepriesen, aber der kleine Laden, der viele Jahre von den HHB-Zeitfahrern geschätzt wurde, ist immer noch vernagelt. So steuern wir die neue Tanke am Ortsausgang an und es gibt ein letztes Mal einen Coffee to Ride.

Letzter Zwischenstopp in Rhinow

Wir haben bis zu 286 Kilometer in den Beinen, es sind jetzt noch genau 79 Kilometer bis zum Ziel und wir sind seit 13 Stunden unterwegs. Wenn dann Mut oder Kräfte schwinden, dann ist das nur allzu verständlich. Unser Tempo pendelt im Bereich zwischen 25 und 29 km/h auf und ab, denn die Unterstützung aus Südwest ist verloren gegangen. Ebenso schwindet die ermutigende Sonneneinstrahlung und lässt durchaus einmal dem Unmut Luft. Doch das Ziel rückt immer näher.

Bei Kilometer 330 stoßen wir auf Nauen und werden fortan wieder den Kraftverkehr an unserer Seite entlang ziehen wissen. Wir verschlanken unseren kleinen Verband auf eine Reihe und setzen ein konstantes Tempo, mit dem wir ans Ziel gleiten wollen. Das gelingt uns vortrefflich gut für eine Strecke von genau 20 Kilometern. Wir haben nun Falkensee erreicht, 350 Kilometer gedrückt und es sind nun noch 14 Kilometer gleichermaßen zum Ziel wie zum Nachtlager. Auch wenn es schwer fällt oder grade weil es schwer fällt: Wenn jemand zum sechsten Mal dabei ist, dann steht einem Anno Corinna nicht so sehr der Sinn nach einem isolierten Ziel, dann darf er getrost direkt ins hygienisch konzeptionierte Nachtlager ziehen. Daher steuern nun vier HANSA-Piloten mit dem Einbruch der Dunkelheit auf das Ziel zu. Sie queren die Bundestraße B5 und gelangen über den Hahnebergweg im Mauerpark voran, bis sie danach die Bundesstraße B2 queren. Abschließend gleiten wir auf der Gatower Straße entlang der Havel zum Städtischen Wassersportheim Alt-Gatow, unserem Zielpunkt. Nach 364 Kilometern legen wir um 19.01 Uhr zum Touchdown nochmnals den Mund-Nasen-Schutz an und rollen für ein Zielfoto 30 Meter an den Steg von Spandau Beach.

Willkommen am Strand von Spandau!

Chapeau!, allen fünf HANSA-Piloten, insbesondere an die Langstrecken-Novizen Daniel (280 km) und Udo (364 km). Jetzt geht es nur noch einmal aufs Rad für sanfte 6,5 Kilometer bis zum Nachtlager.

Foto: Audaxclub Schleswig-Holstein e. V.

Und hier die Route …