Randonneurs.be, Frans-Vlaamse Randonneurs, Raversijde (Oostende), 2.-3. Juni 2011, Brevet 600

Ursprünglich hatte ich mich mit der Absicht getragen, die gesamte Serie in Herentals zu absolvieren, aber leider ließen andere Terminvorgaben mich bisher nur zum 200er nach Flandern ausziehen. – Es sind heute (1.6.) noch 3x3x3x3 Tage bis PBP. Den 300er und 400er haben wir gemeinsam am 22. April und 7. Mai bei Stefan in Kiel bewältigt. Da liegt es also nahe, dass wir auch den 600er gemeinsam treten. Der Weg ist also frei für eine zünftige Himmelfahrtstour in Flandern.

Eigentlich ist alles detailliert vorausgeplant: Das Hotel ist gebucht, Fahrrad- und Gepäckverladung ins Auto um 12.30 Uhr und unmittelbar um 14.30 Uhr werden wir durchstarten ins Land der Radfahrer – soweit die Theorie. Entgegen der Ausschreibung war auch am Abend zuvor noch kein Track online verfügbar, aber immerhin hatte Julien eine Streckenbeschreibung auf flämisch gemailt. Björn hat noch aktuelle Uploads bei GPSies gefunden, aber scheitert mit ihnen wiederholt bei der Einspeisung in sein GPS. Um doch unabhängiger Herr der Lage zu werden, will er es weiter versuchen und wird dann aber erst um 14.30 Uhr mit seinem Rad eintreffen. Parallel dazu, erstöbere ich aktuelle Tracks bei OpenRunner. Dort ist die Ostschlaufe bereits in drei Abschnitte gesplittet verfügbar, aber die Westschlaufe überschreitet mit über 3000 Wegpunkten das Maximum um mehr als das Sechsfache. Mittels Babel kann ich diesen Track anpassen und speichere nun alle vier Tracks auf meinem GPS – so denke ich zumindest. Es ist inzwischen halb drei vorbei und von Björn ist noch nichts zu sehen. Auf meinem GPS ist indes auch nur ein Track angekommen, denn die drei kleinen sind im Datenstrom verpufft. Erst nachdem ich auch diese mit Babel zurechtgebogen habe, bequemen sie sich endlich auf mein Gerät. Von Björn ist inzwischen telefonisch zu erfahren, dass er mit der Bahn von Hamburg aus leicht verspätet in Buxtehude angekommen war, sich dann aber mit dem Rad offensichtlich schon in Apensen verfahren hat. Wir verabreden ad hoc ein Treffen auf halber Strecke, verladen dort sein elendig langes Rad und gehen mit gut einer Stunde Verspätung auf die Reise – na ja, in Bockel gibt es den ersten Stau, daher also über Land, in Stuckenborstel auf die Autobahn und ab Grundbergsee im nächsten Stau. Das setzt sich mehrfach, auch in den Niederlanden noch weiter fort. So steuern wir dort um 20.30 Uhr spontan ein Restaurant an und bekommen keinerlei Pasta, sondern nur Apfelpfannkuchen mit Ahornsirup als Carbon-Spender. Der kleine Snack hat uns eine Dreiviertelstunde geraubt und so fahren wir nun weiter auf den nächsten Stau in Antwerpen zu. Vom Hotel erreicht uns inzwischen ein Anruf des Nachtportiers, der unser Appartement offen lassen will und sich zur Ruhe begibt. Heilfroh erreichen wir kurz vor Mitternacht Ostende. Wir steuern sicherheitshalber noch schnell den Startpunkt an und fahren dann weiter zum Hotel, wo wir nach einigem Suchen auch das Appartement Nr. 12 entdecken und um 0.30 Uhr das Licht löschen. Nur wenig später, um 4.00 Uhr, schellt der unverschämte Wecker und wie in Trance taumeln wir durch das Bad in die Radkle ider, bedauern uns kurz, da es Frühstück erst ab 8.00 Uhr gibt, und fahren mit dem Auto zum Startplatz am Cafe de Ton, das wir pünktlich um 4.45 Uhr zur Einschreibung erreichen.

An allen Ecken wuseln die mit Leuchtwesten gekleideten Wesen herum, montieren ihre Fahrräder und bestücken diese und sich mit allem, was man eben so für eine solche Himmelfahrtstour braucht. Gegen fünf Euro Startgebühr gibt es von Julien nochmals eine flämische Streckenbeschreibung und die erforderliche Brevetkarte zum Abstempeln. Es sind (ca.) 18 Randonneure, die sich um 5.05 Uhr bei trockenen 16 Grad Celsius auf die große Fahrt begeben. Drei von Ihnen haben sich entschlossen, zunächst die Westsschlaufe nach Frankreich zu fahren, während wir gemeinsam mit dem Kern in den Osten, in die Niederlande starten wollen. Einige erläuternde Worte einer flämischen Ansprache von Julien haben wir nur bruchstückhaft aufnehmen können und fahren nun erst einmal los. Wir erreichen in der Gruppe Ostende und ich trete, müde wie ich bin, dem führenden Radler stumpf hinterher. Er hat einen riesigen Rucksack dabei und steuert plötzlich auf das Bahnhofsgebäude zu. Er möchte eben schnell seinen Rücksack bei der Gepäckaufbewahrung abgeben, doch die öffnet erst um 6.00 Uhr. Da die übrigen Fahrer inzwischen fort sind, mache ich mich alleine auf, um sie schnell einzuholen. Schnell bin ich auf dem Track und trete flott durch die Dunkelheit der Stadt. Aber irgendwie kommt mir alles so bekannt vor, denn ich bin schon wieder vier km in Richtung Ursprung unterwegs. Der Kompass auf dem GPS ist winzig klein und meine Mündigkeit trägt den Rest zu dieser Verwirrung bei. Nun aber wieder gedreht und rein in die Pedale. Den Kameraden am Bahnhof kann ich nicht entdecken, er hat sein Gepäck vielleicht schon abgeben können und ist nun schon vor mir unterwegs. Also stürze ich mich wieder auf meinen Track, aber achte nun auf die Himmelsrichtung. Vom Bahnhof aus führt es mich über spezielle Trassen der Straßenbahn hinweg und sogleich auf einer Umleitung über einen Kanal und dann entlang dem Kanal aus der Stadt hinaus. Zunächst passiere ich Gewerbeflächen und gelange dann in die Ruhe der Wasserläufe.

Aus dem Kanal steigt feuchte Luft empor, ein Nebelbett, das auch die angrenzende Straße erfasst. Die Feuchtigkeit vermittelt eine Kühle, nahezu eine Kälte, die gefühlt bei 6 Grad Celsius liegt. Etwa bei Kilometer 20 halte ich an und streife meine Handschuhe über, denn die kalte Feuchte ist bitterlich. So trete ich weiter durch den Frühdunst am Kanal entlang.

Im GPS teilt sich bald der Track und zeigt mir damit an, dass ich hier den Punkt erreichen werde, an dem ich nach der Rückkehr aus den Niederlanden wieder auf gleicher Route zurück nach Ostende fahren werde. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Inzwischen entferne ich mich vom Kanal und die Temperatur wird damit angenehmer. So überfahre ich bald die Landesgrenze und erreiche bei Kilometer 71 den Ort Breskens.

Es ist kurz nach acht Uhr und an der Kreuzung im schlummernden Ortskern scheint sich nur in diesem einen Lokal etwas zu rühren. Es ist im Stil eines aus alten Hollywood-Filmen bekannten Fastfood-Restaurants eingerichtet, bei dem die Zeit vor 50 Jahren stehen geblieben ist. In der „Snackbar Happy Days“ sitzt ein einzelner Gast mit Bier und Zigarette an der Bar und deutet lässig mit dem Finger auf den bereitliegenden Stempel.

Auch wenn es die erste Kontrolle ist und ich offensichtlich hinten an hänge, so will ich mich trotzdem kurz niederlassen. Einen großen Koffie bestelle ich mir und genieße ihn in aller Ruhe. Dabei frage ich den Gast auf Englisch nach den anderen Radlern und erfahre von ihm in klarem Deutsch, dass sie vor weniger als zehn Minuten aufgebrochen sind. Gestärkt vom Kaffee steige ich wieder auf mein Rad und trete flott in die Pedale. Die aufsteigende Sonne stärkt meinen Tritt und ich genieße die flotte Fahrt durch ein sattes Grün der Küste.

Am Wegesrand leuchtet besonders die Blüte des Wilden Mohn, den ich im kurzen Stopp im Bild einfangen will. Weiter trete ich bis Paal/NL, wo mir zahlreiche Rennradgruppen auf ihren Trainingsfahrten entgegen kommen. Hier fahre ich einmal neugierig auf den Deich hinauf und richte meinen Blick hinaus auf das Wasser.

Nun fahre ich wieder in den Süden und gelange bei Kilometer 130 nach Graauw.

Anstelle der erwarteten AVIA-Tankstelle entdecke ich am Ortsrand eine andere.

Innerorts stoße ich vor einem Café auf eine kleine Gruppe von Randonneuren, unter ihnen auch Erwin und Antonio. Während sie wieder aufbrechen, lasse ich mich nun nieder, um wieder einen stärkenden Kaffee zu genießen. Dazu bekomme ich einen großen, dunklen, lockeren Honigkuchen gereicht, der mir sehr mundet. Während die anderen längst wieder auf der Straße sind, kehre ich nochmals zurück zur markengewandelten Tankstelle am Ortseingang, um meinen Stempel zu holen. Von der kleinen Tankstelle aus setze ich nun meine Reise fort, die mich weiter gen Süden führt und quere alsbald erneut die Landesgrenze. In Velle führt mich eine Brücke über die E17 von Gent nach Antwerpen.

In Temse überquere ich das Wasser der Schelde und werde hier von einer sonnenbadenden Jungfrau begrüßt.

Mein Weg führt mich weiter auf dem Deich entlang und ich erfreue mich der vielfältigen Flora entlang des Ufers.

So erreiche ich bei Kilometer 186 Dendermonde.

Da das Cafe Tripoli geschlossen ist, wähle ich ein Lokal an der Scheldebrücke als Kontrollstelle aus.

Dieser Laden ist jedoch ziemlich heruntergekommen, aber noch viel mehr sind es seine Gäste, die zu dieser Mittagszeit nicht nur im Nebel ihrer Zigaretten stehen. Die Wirtin brüht mir jedoch einen frischen Kaffee auf und füllt mir freundlicherweise meine Wasserflaschen. Nach einem zweiten Kaffee sattel ich wieder auf, fahre über die Brücke und folge nun der Vlaanderenfietsroute nach Wetteren. In Gentbrugge kehre ich kurz in einen geöffneten Obst- und Gemüseladen ein. Eigentlich will ich mir ein paar Datteln kaufen, kann aber nur erfrischende Äpfel erstehen. Wieder auf dem Rad treffe ich erneut auf Erwin und Antonio und teile mit ihnen ein Stück des Weges. Wir trennen uns wieder, als Erwin wegen einer Reparatur eine Werkstatt abseits des Weges ansteuern will. So fahre ich also wieder alleine weiter.

Über Vinderhoute gelange ich irgendwann wieder nach Brügge, wo mich mein Track mitten durch ein Volksfest führt. Noch in der Stadt muss ich ein paar weitere Bögen ziehen, zunächst um das Lager eines Zirkus und danach um ein paar Baustellen herum. Nach der Stadt gelange ich wieder auf den Teil der Strecke, den ich schon am Morgen in entgegengesetzter Richtung gefahren bin. Es ist noch immer der gleiche Kanal, aber es ist hier nicht mehr nebelig, kalt und still, sondern lebendig durch zahlreiche Tourenradler die hier unterwegs sind. Ebenso treffe ich auf zahlreiche Ackerschlepper, die hier verkehren. Als ich am späten Nachmittag Ostende durchquert habe und in Raversijde am Café de Ton ankomme, treffe ich wieder auf zahlreiche Randonneure. Unter ihnen ist auch der Lieger Björn.

Er hat sich schon satt gegessen und würde nun am liebsten gleich wieder auf die Strecke gehen. Seine belgischen Mitstreiter wollen indes allesamt reservierte Nachlager in Dünkirchen ansteuern. Da er keinen Track auf seinem GPS hat und ihm das flämische Roadbook arge Schwierigkeiten bereitet, entschließt er sich, auf mich zu warten. Nach zwei super leckeren Portionen Spaghetti al Vegetaria fühle ich mich dann auch ausreichend gestärkt und so können wir um ca. 19.30 Uhr auf unsere Reise nach Frankreich gehen. Nach kurzer Zeit fangen wir Johan ein, der sich entschlossen hat, erst in Boulogne sur Mer ein Nachtquartier zu nehmen. Wir sind flott unterwegs und ziehen ihn im Windschatten über den Asphalt. Da unser Restart nicht ganz seinem Reisetempo entspricht, koppelt er sich jedoch nach einiger Zeit von uns ab. So ziehen wir zu zweit in einem straffen Tempo über die Piste, so dass es nette Erinnerungen an Heinos 600er in 2009 wach werden lässt.

Um 22.00 Uhr erreichen wir das Café des Sports in Bourbourg, in dem zu diesem Zeitpunkt sehr ausgelassen gefeiert wird. Die Gäste sind ausgesprochen fröhlich und empfangen uns mit großer Begeisterung. Unverkennbar sind fast alle angeschwippst und einige haben schon die Rückseite der Theke erobert.

Die Frage nach dem Stempel gestaltet sich in dieser Situation etwas schwierig und auch möchte man uns doch lieber ein Bier anbieten anstelle von Kaffee. Aber wir bekommen unseren Stempel und auch den Kaffee dann doch und setzen uns mit dem Kaffee an einen ruhigen Tisch. Ganz lange ist es aber nicht ruhig, denn einer der Gäste ist unendlich begeistert von Björns Liegerad und möchte doch ach so gerne und eigentlich immer schon einmal mit einem solchen Rad fahren. Kurz darauf trifft auch Johan hier ein. Björn lässt seinen Radfan kurz auf dem Lieger Platz nehmen. Dabei muss dieser jedoch schnell feststellen, dass die Sache mit dem Gleichgewicht auf diesem Gefährt irgendwie anders ist, als er sich das vorgestellt hat und irgendwie ist er für das Rad des langen Björn doch etwas zu kurz geraten.

So fahren wir dann auch endlich weiter in die Nacht hinaus. Wir treten zügig durch das Dunkel und erreichen kurz vor Mitternacht das Touristikstädtchen Wissant.

Da die Saison noch nicht angefangen ist, ist hier zu dieser Uhrzeit nicht wirklich viel los, genauer gesagt, ist hier heute nix los. An den Hotels ist alles dunkel und wenn auch an ihnen scheinbar Autos von Gästen parken, so sind die Türen zu und nirgendwo ist ein Nachtportier auszumachen. Nach längerer vergeblicher Suche treten wie an den Fahrer eines eintreffenden PKW heran. Dieser stellt sich als Urlaubsgast eines Ferienhauses vor und rät uns eine Straße an, in der wir möglicherweise noch geöffnete Lokale finden könnten. Wir begeben uns in diese Straße, doch die Lokale sind alle dunkel und geschlossen. Just als wir aufgeben wollen, da klappert es irgendwo. Auf der Rückseite eines Hotels entdecken wir Licht und hören zudem Stimmen. Sie kommen durch ein kleines Glasbaustein-Kippfenster durch das nun auch ein emsiges Klappern dringt. Ein Schild verrät uns, dass hier eine Bäckerei betrieben wird. Ohne Kenntnisse der französischen Sprache fällt es uns arg schwer, der Bäckerin, die wir nachts während ihrer Arbeit ans Lüftungsfenster gerufen haben, zu erklären, dass sie uns bitte einen Firmenstempel in unsere Brevetkarten drücken soll. Sie nimmt unsere Karten entgegen und es vergeht eine schier unendliche Zeit, bis wir wieder etwas hören können. Wortlos streckt sie uns dann die Karten durch das kleine Fenster hinaus. Wir öffnen die Karten und sind hellauf begeistert, dass wir das Begehrte erhalten haben. Schnell noch ein Foto vom Bäckereischild als Zeitstempel (00:22 Uhr) geschossen und wir rollen wieder über die Straßen.

Wir verlassen Wissant und gehen nun auf den Teil der Strecke, der uns von Johan als sehr hügelig beschrieben wurde; es ist der eher kurze Abschnitt nach Boulogne sur Mer. Zunächst ist die Struktur des Geländes noch unverändert eben, doch mit weiterer Annäherung an Boulogne sur Mer tun sich immer mehr Hügel auf. Während einer der kleinen Steigungen beginnt Björn ganz fürchterlich herum zu wettern, denn die rechte Tretkurbel seines Liegers ist urplötzlich abgefallen. Glücklicherweise sind Kurbel, Befestigungsbolzen, Unterlegscheibe und Dichtring nicht verloren gegangen und so können wir gleich mal Werkzeug herausholen um die Kurbel wieder zu befestigen. Leider ist kein 8mm-Inbuss-Schlüssel im Sortiment, aber der Randonneur hat für nächtliche Reparaturarbeiten auf der menschenleeren Landstraße immer ein Allzwecktool dabei, von dem irgendetwas vielleicht brauchbar sein könnte. In der Tat, die Spitzzange daran kann als Spreitzzange eingesetzt werden und den Inbus-Bolzen drehen. Dummerweise will der Bolzen aber nicht ins Feingewinde der Welle fassen. Nach Entfernung störender Spanfragmente ist jedoch der Weg frei. An den nächsten beiden Steigungen wird der Bolzen nochmals nachgezogen und sodann erreichen wir in flottem Tritt vor den Toren der Stadt Boulogne sur Mer einen Kreisverkehr und rollen entsprechend dem Track hinunter in den Hafen. A

n den Bars und Hotel ist es überall dunkel und auch als wir am Hafen das Fähnchen im Track erreicht haben, stoßen wir auf finstere Fenster und Türen. Wir drehen nochmals und fahren erneut an den dunklen Hotels entlang. In einem der Hotels erkennen wir an der Rezeption einen Nachtportier, also halten wir und gehen hinein. Nach den Formalien, also dem ersehnten Stempel, fragen wir nach etwas Essbarem, denn seit dem Café de Ton haben wir nun 139 km abgestrampelt und es sind knapp sechs Stunden vergangen. Leider kann der Portier uns nur Kaffee anbieten, wovon wir dann auch gerne gleich zweimal nehmen.

Die Kommunikation mit dem Portier gestaltet sich zwar schwierig und mit „Allen Key“ kann er rein gar nichts anfangen. Hilfsbereit begibt er sich jedoch zum Rad und Björn deutet auf den Bolzen. Sofort holt der Portier den passenden Inbusschlüssel hervor und Björn kann die Kurbel nun endlich fest anziehen. Wir haben nun den Wendepunkt der Westschlaufe erreicht und planen unseren Ritt zurück in den Osten nach Ostende. Unser nächster Kontrollpunk ist erst in 100 Kilometern im belgischen Beveren. Es ist inzwischen nach zwei Uhr. Wenn wir also gemütlich durch die Nacht fahren, dann werden wir Beveren nach sechs Uhr erreichen und verbinden damit die Erwartung, dass wir dort schon mindestens bei einem Bäcker eine geöffnete Kontrollstelle finden werden. Wir satteln auf und fahren vom Hafen aus zurück zum Kreisel vor der Stadt. Der weitere Weg führt uns im Bogen an den Lichtern der Stadt vorbei. Wir verlassen nun die Küste und erreichen die Dunkelheit. Die Route führt uns quer durch den Parc Naturel régional des Caps et Marais d´Opale. Leider bleiben uns in der Finsternis die Reize dieser Landschaft verschlossen. Unsere Scheinwerfer erhellen uns nur die Straße und das dringend geboten, denn der Asphalt weist unzählige Schäden auf. Zudem ist der Asphalt extrem rau und so rollt es alles andere als gut. Johan hatte uns erzählt, dass der Weg nach Boulogne sur Mer wellig sei, aber auf dieser Route geht es noch weit mehr auf und ab und dabei immer entgegen dem Wind. Physische Anstrengung und konzentrierte Obacht im Dunkeln auf die Löcher im Fahrbahnbelag fordern ihren Tribut. Irgend wann sind wir völlig leer und hoffen darauf, alsbald einen Windschutz zu finden, an dem wir für wenige Minuten ruhen können. Zunächst ist nirgendwo etwas zu finden, aber dann entdecken wir ein kleines gemauertes Buswartehäuschen. Eine Bank ist darin nicht vorhanden, aber Björn legt uns das Polster seiner Liegerschale auf den Boden. Wir setzen uns gemeinsam darauf, lehnen uns mit dem Rücken an die Wand und schließen die Augen. Ich nicke sofort ein und nach zehn oder 15 Minuten öffne ich meine Augen wieder. Das war absolut notwendig und hat so gut getan. Wir gehen wieder auf die Straße und rollen weiter in den aufwachenden Tag hinein.

Es ist halb sechs als wir Nordausques durchfahren und das Licht des Tages wieder bei uns ist. Eine halbe Stunde später sind wir hinaufgestiegen zur Festung von Wattenberg.

Die aufgehende Sonne bringt unsere Fahrt wieder in Schwung und so rollen wir wenig später in Bollezeele ein. Plötzlich ist die Straße am Marktplatz eingehüllt in einen wunderbaren Duft frischer Backwaren. Die Rollläden am Laden von Michel Diacre sind noch geschlossen, aber der erste Kunde geht schon zielstrebig in den Laden hinein.

So geben wir uns dem Duft hin und stellen unsere Räder schnell ab. Die Baguettes sind leider noch im Ofen, aber wir können bereits auf backfrische Croissants und frische Puddingschnitten zugreifen. Damit setzen wir uns auf die Bank gegenüber der Kirche und lassen es uns richtig schmecken –

eigentlich schlingen wir es doch gierig hinunter und sitzen ganz schnell wieder auf den Rädern. Die kleine Stärkung hat so gut getan und verleiht uns gemeinsam mit den wärmenden Strahlen der Morgensonne kräftigen Schub.

Der Wind ist abgeflaut und so ziehen wir dem Track folgend alsbald in Roesbrugge-Haringe ein.

Wir betreten einen kleinen Gemischtwarenladen und erstehen Äpfel, Nektarinen, verschiede Brötchen, geschnittenen Gouda und fragen dann nach einem Stempel. Dummerweise bemerken wir erst jetzt, dass dies ein Exkurs des Tracks ist und nicht zur eigentlichen Strecke gehört. Denn der richtige Kontrollort ist nämlich Beveren. Trotzdem lassen wir uns hier nach den Strapazen der Nacht gemütlich an den Tischen eines noch geschlossenen Lokals auf dem Marktplatz nieder und genießen nach dem kleinen Bissen von Bollezeele nun unser rustikales Frühstück in Roesbrugge.

Nach dem erneuten Aufbruch erreichen wir unmittelbar Beveren und halten zur frei wählbaren Kontrolle sogleich an einer Werkstatt mit Tankstelle direkt am Ortanfang.

Die 60 Kilometer der letzten Etappe können wir weiterhin in herrlicher Morgensonne genießen und so erreichen in Middelkerke den Seedeich. Die Wiederbegegnung mit Meer ist eine wahre Befreiung. Sonne, Meer und Seewind lassen uns aufatmen und die Gewissheit erlangen, dass wir es geschafft haben. Wir halten für ein paar Erinnerungsfotos an der Strandpromenade inne. Zusammen mit der Euphorie kommt indes etwas Verwirrung bei mir auf: Es sieht hier ganz genauso aus wie an der Strandpromenade von Ostende und damit stellt sich die Frage, ob wir hier nun richtig sind. Wir fahren dem Track folgend auf der Promenade entlang und der frische Seewind streut uns den feinen Sand vom Strand in entgegen. Erst als wir den Baukran in Raversijde erreichen, realisiere ich, dass die Strandpromenade von Middelkerke fast völlig identisch aufgebaut, mit Gebäuden und Lädchen bestückt ist, wie die Strandpromenade von Ostende, die mir vom letzten September in guter Erinnerung ist. Wir haben uns jetzt durch die Windbremse am Meer getreten und erreichen wenige hundert Meter nach dem Abbiegen am Kran das Café de Ton. Erschöpft lassen wir uns auf der Terrasse des Lokals nieder.

Die junge Kellnerin kommt gleich auf uns zu und zur Belohnung ordere ich für uns als erstes zwei Duvel Speciaalbier. Danach bestellen wir zum Wiederauffüllen der Carbonspeicher wieder die beliebte Pasta al Vegetaria. Die Nudeln sind wieder sooooo lecker, dass man gleich noch eine zweite Portion nachbestellt. Während der Mahlzeit verabschieden wir einen wenig später eingetroffenen Mitstreiter, der an der Straße unmittelbar von seinen Angehörigen abgeholt wird. Nachdem unsere Bäuche gefüllt sind, verladen wir unsere Räder ins Auto und begeben uns damit auf eine kurze Sideseeingtour durch Ostende. In Ermangelung an geeigneten Parkplätzen halten wir irgenwann, irgendwo auf einem beschatteten Seitenstreifen am Rande des Stadtkerns und schließen für 20 bis 30 Minuten die Augen. Wieder erwacht fahren wir zum Einkaufszentrum in Westende und wollen dort in einem Supermarkt einkaufen. Die Aufstellung der Waren ist vergleichsweise zweckmäßig, aber besonders fällt hier die individuelle Geschäftsabwicklung an der Kasse auf. Der Zahlvorgang wird konsequent von der Warenerfassung getrennt und es kommt dabei an der Registrierkasse überhaupt nicht zu diesen typisch deutschen Bedrängung. Bevor wir die Heimreise antreten, halten wir nochmals kurz am Cafe de Ton. Wir erfahren, dass inzwischen fünf Räder am Ziel eingetroffen sind und nehmen damit Abschied von Flandern – Paris, wir kommen!

Gesamtroute bestehend aus zwei Schlaufen von je 300 Kilometer
1. West-Schlaufe
2. Ost-Schlaufe